Schreckgespenst „Vereinigte Staaten von Europa“?

Foto von: Elliott Brown

Das Konzept „Europa“ hat für viele Menschen innerhalb und außerhalb der EU seinen Glanz verloren. Statt Aufbruchstimmung und Enthusiasmus macht sich ein ausgewachsener Kater breit. Der Euro wurde an die Wand gefahren, unsere Volkswirtschaften ertrinken im Schuldenmeer, Banken und Konzerne picken sich nach Gutdünken die Rosinen aus dem Kuchen und diktieren teils wortwörtlich die Gesetzgebung. Kann man den Europäerinnen und Europäern angesichts solcher Bilder tatsächlich übel nehmen, wenn die Vorstellung von einer weiteren Stärkung des „Molochs“, womöglich gar von den „Vereinigten Staaten von Europa“ eher als Bedrohung denn als Chance wahrgenommen wird?

Aber muss Europa wirklich „der Feind“ sein? Müssten die VSE zwangsläufig dem Negativ-Beispiel USA in Sachen Demokratie- und Freiheitsfeindlichkeit folgen? Ist ein tatsächlich vereinigtes Europa wirklich nur als Alptraum überbordender Privatisierung und allmächtiger Wirtschaftsinteressen denkbar?

Gehen wir das Ross doch einmal von vorne an: Mit einem Blick in die Vergangenheit.

Im Prinzip hat Europa alles schon durch. Von der weitgehenden Vereinigung unter einer einheitlichen Macht- und Herrschaftsstruktur, bis hin zur vollständigen Zersplitterung in Kleinststaaten, gegen die unsere heutigen Nationen wie riesige Imperien wirken.

In der Zeit vor den napoleonischen Kriegen bestand „Deutschland“ beispielsweise aus über 300 Staaten. Napoleon schaffte es immerhin, diese Zahl auf 60 zu begrenzen. Die heutigen Bundesländer sind sowohl in Deutschland als auch in Österreich ein mehr oder minder willkürliches Konstrukt der Neuzeit.

Foto von: Dunc(an)

Im krassen Gegensatz dazu herrschte Karl der Große, um 800 nach Christus, über ein relativ straff organisiertes Reich, welches mit Ausnahme Spaniens und eines Teiles von Italien mehr oder minder den heutigen EU-Raum umfasste. Das Imperium der Römer machte zwar einen Bogen um große Teile des heutigen Deutschland, vereinte dafür aber sogar weit mehr als nur den europäischen Kontinent.

Irgendwie scheint der Europa eine permanente Berg- und Talfahrt zu unternehmen. Spätestens seit den Kelten gibt es immer wieder erfolgreiche Vereinigungs- oder Unterwerfungsbestrebungen, auf die genauso zuverlässig das mehr oder minder kriegerische Auseinanderdriften folgt. Man kann aber nicht in Abrede stellen, dass der Wunsch nach einem gemeinsamen Staatengebilde offensichtlich doch vorhanden sein muss. Warum sonst wären immer wieder tausende von Menschen bereit gewesen, dafür in den Krieg zu ziehen?

Interessant ist auch ein Blick auf die oft beschworenen „unterschiedlichen Kulturen“ Europas. Denn die Nationen lassen sich zwar ohne weiteres durch sprachliche Barrieren abgrenzen, aber ist das wirklich auch gleichbedeutend mit kulturellem „Anderssein“? Denkt man den Gedanken mit Sicht auf Österreich zu Ende, wird seine Absurdität offensichtlich. Ohne die Vermittlung des „Hochdeutschen“ verstehen ein Burgenländer und ein Vorarlberger im Gespräch miteinander oft sprichwörtlich nur Bahnhof. Begründet sich daraus eine kulturelle Andersartigkeit, welche das Gefühl der Zusammengehörigkeit als „Österreicher“ außer Kraft setzt? Wohl nur in den seltensten Fällen.

Wenn aber die heutigen Grenzen europäischer Nationen eben nur aufgrund von Sprachbarrieren gezogen wurden, was steht dann der Bildung eines europäischen „Wir“-Gefühls im Wege? Sind die Unterschiede zwischen den Nationen in Europa in Wirklichkeit nicht viel weniger Prägnant als die Gemeinsamkeiten?

Ein Problem von gestern und heute: Die Politik.

Wann immer Europa sich in Kleinststaaten aufgedröselt hat, lag dahinter ein relativ klares Interesse: Machtverteilung. Ein großer Kuchen lässt sich eben schlechter aufteilen als viele kleine. Die Interessen der Europäerinnen und Europäer spielten dabei immer nur eine untergeordnete Rolle.

Selbst die Grenzziehungen nach dem ersten Weltkrieg können dafür als Beispiel herangezogen werden. Ging es bei der Fragmentierung Europas unter dem Motto „ein Volk ein Staat“ tatsächlich um Freiheit, Selbstbestimmung, Frieden und Demokratie? Oder wurden in Wirklichkeit nicht ganz einfach mehr Regierungsfunktionen (=Kuchenteile) geschaffen, damit im Endeffekt für alle an den Verhandlungen beteiligten ein ganz persönliches Stückchen Macht und Herrschaft ab fiel?

Auch in aktuelleren Entwicklungen spiegeln sich die Interessen der Bürgerinnen und Bürger nicht wirklich wieder. Egal ob es dabei um die Regulierung der Finanzmärkte geht, um Umweltschutz, oder Urheberrechte. Das Ungleichgewicht zugunsten der „1%“ ist ständig greif- und sichtbar. Bis hin zu Gesetzesinitiativen, deren Inhalt 1:1 von den Vorschlägen der Konzernlobbyisten abgeschrieben wurde.

Foto von: David Boyle

Wer kann es den Menschen da übel nehmen, wenn sie sich nur schwer des Eindruckes erwehren können, dass in der europäischen Politik das Eigeninteresse von „Volksvertretern“ und Wirtschaftsgrößen praktisch immer Vorrang vor dem Gemeinwohl hat? Ob der niederdrückenden Schwere der Beweislast geraten doch selbst die glühendsten Verfechter der Unschuldsvermutung in argumentative Bedrängnis.

Offensichtliche Tatsache ist, dass ausufernder Lobbyismus und eine, von Selbstherrlichkeit und Machtdenken geprägte, fortlaufende Verwässerung demokratischer Prozesse die Idee Europa permanent und nachhaltig schädigen. Egal ob in Spanien, Österreich, Griechenland oder bei den Esten im hohen Norden, die „EU“ präsentiert sich fast immer nur als bedrohliches Konglomerat aus Wirtschaftsinteressen, Banksterei, überbordender Bürokratie und ein wenig Feigenblattpartizipation zum drüberstreuen.

Dabei hat die EU auch viele positive Veränderungen mit sich gebracht.

Da sind zum Beispiel die vielen kleinen, alltäglichen Bequemlichkeiten. Wer viel innerhalb Europas auf Reisen ist, der würde bei ehrlicher Betrachtung dem Euro bittere Tränen nachweinen, sollte er jemals wieder abgeschafft werden. Die lästigen, oftmals zeitraubenden und gelegentlich regelrecht invasiven Grenzkontrollen entlang der, eben beinahe willkürlich gezogenen, Staatsgrenzen wird auch kein normal denkender Mensch wirklich wieder herbeiwünschen.

Wir können uns innerhalb Europas frei bewegen, ohne Passierschein und Aufenthaltserlaubnis. Wer als Europäer oder Europäerin in einem anderen Land wohnt und arbeitet, der hat aufgrund europäischer Richtlinien das verbriefte Recht auf Familienzusammenführung. Selbst dann, wenn Familienmitglieder das Pech haben, nicht über einen „Schengenpass“ zu verfügen. EU-Bürger im europäischen Ausland dürfen auf kommunaler Ebene wählen und gewählt werden, ihnen steht Gleichbehandlung und Unterstützung in praktisch allen Belangen zu.

Sowohl der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg haben wegweisende Urteile zur Stärkung der Bürger und Menschenrechte innerhalb der EU gefällt. Oft gegen alle negativen Trends und Gewohnheiten.

Foto von: Steven Depolo

Ein gutes Beispiel dafür ist das Jagdrecht. In vielen Ländern der EU wird die Jagdpacht vom Staat vergeben. Über die Köpfe der „mitverpachteten“ Grundstücksbesitzer hinweg. Das Nutzungsentgelt dafür, dass fremde Menschen auf dem eigenen Grund und Boden herumfuhrwerken und mit scharfer Munition um sich schießen, fließt in alle möglichen Kanäle, nur nicht zu den Grundstückseigentümern.

Dagegen hatte eine französische Landbesitzerin geklagt. Sie wollte auf ihren Flächen die Jagd verbieten, dieses Recht wurde ihr vom französischen Staat aber abgesprochen. In Frankreich hat sie in allen Instanzen verloren. Rechtsexperten hatten ihrem Anliegen von Anfang an keinerlei Chancen eingeräumt. Gesetz ist schließlich Gesetz, was ein Parlament beschlossen hat, da fährt die Eisenbahn drüber.

Der Fall landete schlussendlich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser Urteilte völlig klar: In einem demokratischen Land muss es möglich sein, dass ein Grundstückseigentümer oder eine Gründstückseigentümerin selber darüber entscheidet, ob er oder sie auf dem eigenen Grund das Jagen zulassen möchte oder nicht. Eingriffe in diese Entscheidungsfreiheit stellen eine unzulässige Beschränkung der Menschenrechte dar. Diese verbrieften Rechte können durch Nichts und Niemanden wieder abgeschafft oder beschnitten werden. Auch nicht durch ein nationales Parlament. Zumindest nicht, so lange es entsprechende europäische Institutionen zu ihrer Wahrung und Verteidigung gibt…

Auch für den EuGH lassen sich Fälle von vergleichbarer Tragweite finden. Beispielsweise die Entscheidung, dass die Blockade von Autobahnen ein legitimes Mittel des Protestes im Rahmen der freien Meinungsäußerung darstellt. Oder harte Urteile über den Schutz von Natura 2000 Gebieten, mit denen auf nationaler Ebene sehr gerne Schindluder getrieben wird. In Österreich mussten deswegen schon Projekte zurückgebaut und die von einer Landesregierung illegal umgewidmeten Flächen renaturiert werden.

Liegt die Zukunft in den „Vereinigten Staaten der europäischen Bürgerinnen und Bürger“?

Der einfachste Weg, das weit verbreitete Unbehagen gegenüber der EU zu beseitigen, verlangt gleichzeitig nach dem größten Mut seitens der verantwortlichen Politiker: Mehr direkte Demokratie und eine kräftige Aufwertung des europäischen Rechtssystems.

Im Moment verfügt die Europäische Union über ein loses Geflecht von schlecht bis überhaupt nicht legitimierten Vertretungen. Das einzige direkt gewählte Gremium (EU-Parlament) ist in weiten Bereichen zahnlos.

Die europäische Bürgerinitiative, einst als Weg zu mehr Partizipation propagiert, darf in ihrer heutigen Form getrost als gescheitert angesehen werden. Die Hürden sind so hoch gesteckt, dass selbst ein Breitenthema wie die Privatisierung von Trinkwasser, mit weit mehr als einer Million Unterschriften, daran scheitert. Dabei wäre das Ergebnis ohnehin von zweifelhafter Verbindlichkeit.

Was Europa braucht ist echte Mitbestimmung. Mutig wäre, Volksentscheide nach Schweizer Vorbild einzurichten. Schluss mit bittstellerischen Petitionen an die „Herrschaften“ da oben. Wenn genügend Menschen in Europa „Nein“ (oder natürlich auch „Ja“) zu etwas sagen, dann muss diese Entscheidung auch Gültigkeit haben.

Wünschenswert wäre auch ein deutlich leichterer Zugang zu EuGH und EuGMR. Ein Anliegen vor die Höchstgerichte zu bringen ist kompliziert und kostspielig. Gerade letzteres Problem könnte mit einem einfachen System, ähnlich der Verfahrensbeihilfe in Österreich, leicht aus der Welt geschafft werden. Wer Recht bekommt, sollte nirgendwo in Europa vom Geldbeutel abhängen.

Vor allem aber gilt es, die fatale Schräglage der europäischen Institutionen hin zu Wirtschaft und Lobbyverbänden aus der Welt zu schaffen. Spenden, Partyeinladungen, Reisen und andere Vergünstigungen müssen entweder verboten oder zumindest zu 100% transparent gemacht werden. Gesetzesentwürfe, deren Inhalt im Wortlaut aus Vorschlägen von Lobbyisten übernommen wurde, sind ein deutliches Warnsignal für überbordende Verflechtungen und korrupten Politfilz. Besonders dann, wenn die verantwortlichen Politiker nach ihrem Ausscheiden aus Parlament oder Kommission sofort in einen gut bezahlten Posten bei den Auftraggebern der Lobbyisten annehmen.

Das Projekt Europa hat das Potential, sich von einer leicht schleimigen Raupe zum Schmetterling zu entwickeln. Ohne maßgebliche Änderungen an der Entwicklungsrichtung geht die Fahrt aber in eine Sackgasse. Wird die berechtigte Europaskepsis der Menschen weiter angeheizt, dann droht nicht nur ein Ende aller Träume vom gemeinsamen Wohlstand. Es droht auch das Ende des gemeinsamen Friedens. Europa ist dem bewaffneten Konflikt nicht entwachsen. Wer kein Dach über dem Kopf, nichts zu Essen und keinerlei Aussicht auf Arbeit hat, den treibt ein abgehobener Hofstaat mit glitzernden Palästen und rauschenden Festen womöglich zu äußerst barbarischen Reaktionen. Diese Lektion mussten schon andere europäische Herrscher lernen.

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Über Wolfgang Kuehn

Wolfgang Kühn ist Leiter der Planet-Redaktion, Autor und Consultant.
Weitere Informationen finden Sie auf seiner persönlichen Homepage unter www.wolfgang-kuehn.com , sowie auf Google+ , Facebook und Twitter .

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